Liebe ist die erlösende Kraft
Wenn ein Vater mit seinem Kind spielt oder wenn er es tröstet, bleibt er nicht in seiner vollen Größe vor dem Kind stehen. Er geht in die Knie, macht sich klein, begibt sich in die Lage des Kindes, ist Auge in Auge mit ihm und nimmt seinen Horizont an. Er vergisst seine Sprache und spricht die Worte, die das Kind schon versteht.
Gott geht in die Knie, er lebt das Leben aus unserer Perspektive, spricht die Sprache unseres Stammelns.
Jesus, der kleine König, hat nicht einmal eine Stelle, an der er mit Anstand geboren werden kann. Der kleine König wird versteckt und heimlich außer Landes gebracht, die Macht trachtet ihm nach dem Leben. Er ist nicht einmal einzigartig in seinem Leiden. Er ist nicht der erste Flüchtling, und er wird nicht der letzte sein.
Was ihm zustößt, ist Menschen vor ihm zugestoßen und wird Menschen nach ihm zustoßen.
Der kleine König hat seine Insignien und Zeichen, an denen man ihn erkennt. So wird es den Hirten gesagt: „Und das sei euch ein Zeichen: Ihr werdet ein Kind finden, in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend.“ Lächerliche Würdezeichen: Kinderwindeln und ein Futtertrog!
Wenn sich einer eine blasphemische Verhöhnung von Glanz und Herrlichkeit Gottes ausdenken wollte, könnte er es nicht besser und ironischer tun, als Gott es in der Weihnachtsgeschichte selber getan hat. Es ist ein fremder und zärtlicher Gedanke, dass unser Leben und die Welt nicht gerettet werden durch die Macht der Mächtigen.
Die Liebe, die sich gleichmacht mit dem Geliebten, ist die erlösende Kraft.
nach Fulbert Steffensky
Tage in Moll – so nennt ein kleines Buch die Tage im November.
Wenn das Laub fällt und die Tage kürzer werden, wird die Stimmung verhaltener, nachdenklicher.
Die Sonn- und Feiertage im November laden uns zudem zum Nachdenken ein:
Wie können wir in Frieden miteinander leben? Diese Frage stellt der Volkstrauertag, den wir in unserer Gemeinde als Teil der ökumenischen Friedensdekade begehen.
Wie gehe ich mit meiner Schuld um? Im Gottesdienst am Buß- und Bettag kann ich mir das bewusst machen und mir wird Vergebung zugesprochen.
Aus welcher Hoffnung leben wir? Am Ewigkeitssonntag denken wir an die Verstorbenen und hören die Botschaft von der Auferstehung.
Tage in Moll? Auf jeden Fall Tage, die uns innehalten lassen, die uns hinführen zu Lebens- und Glaubensfragen.
Doch schon Ende November ändert sich der Klang, beginnt etwas Neues. Am 3. Dezember fängt diesmal das neue Kirchenjahr an.
Am 1. Advent wird mit der ersten Kerze schon das Licht sichtbar, das Jesus Christus in unser Nachdenken, in unsere Fragen, in unsere Tage in Moll gebracht hat.
Ihr Pfarrer Popp - Nov. 23
Beieinander im Oktober
Kein Monat gleicht dem Leben so sehr wie der Oktober. Denn da liegen so viele Kontraste eng beieinander.
Grün, gelb, rot und braun strahlen die Blätter im Sonnenlicht von den Ästen der Bäume. Über der gesamten Natur liegt dieser goldene Glanz. Die goldenen Strahlen kitzeln warm auf der Haut. Sanft rauschen die Blätter im Wind. Kinder rennen über die Wiesen. Ihre Drachen fliegen wie schwerelos durch die Luft. Hektisch und wuselig geht es zu. Trauben, Birnen, Äpfel. Kürbisse, Pilze, Nüsse. Mensch und Tier sammeln, was während des Sommers gewachsen ist. Die Speicher werden gefüllt. Die Fülle des Lebens wird gefeiert.
Kurz und dunkel werden die Tage. An manchen Tagen ist die Sonne kein einziges Mal zu sehen. Es wird kälter, gerade nachts. Ein leichter Schauer durchfährt den Körper. Gänsehaut macht sich breit. An den Flüssen und Bächen steigt Nebel vom Boden auf. Seine grauen Schlieren wabern undurchsichtig über die Landschaft. In der Welt wird es still. Die ersten Tiere verkriechen sich in ihren Bau. Sie rollen sich zusammen zu ihrem Winterschlaf. Vergänglich zieht das Schöne dahin. Die Bäume lassen ihre Blätter los. Langsam segeln sie zu Boden und verwelken. Trostlos und kahl stehen die Bäume da. Eng beieinander liegen die Kontraste im Oktober und im Leben überhaupt.
Doch ich wünsche Ihnen, dass sich Ihr Leben in diesem Oktober von der bunten und leichten Seite zeigt.
Ihr Vikar Niko Faulhaber, Okt. 2023
Der langsame Engel
Stoppuhren kann er nicht leiden,
Flugzeuge würde er meiden,
Rennfahrer tun ihm nur leid.
Leuten, die andere scheuchen,
drängeln und hetzen und keuchen,
schenkte er gern seine Zeit.
Er nimmt sich Zeit, den Schiffen zu winken,
Zeit, mit dem Strohhalm zu trinken,
Zeit, für den stotternden Mann.
Er nimmt sich Zeit, für die Wunder im Garten,
Zeit, um genüsslich zu warten
auf die verspätete Bahn.
Nichts hasst er so, wie Gedrängel!
Er ist der langsamste Engel.
Trotzdem kann er viel erzählen.
Er, der Beschützer der Schnecken, möchte die Eiligen necken,
Und ihre Uhrn und ihre Uhrn und ihre Uhrn verstelln.
Träumern und Bummlern und Lahmen sagt er sein: Ja! und sein: Amen!
Er streichelt den, der verweilt.
Trödelnde Kinder entdecken Schätze an fast allen Ecken.
Nichts findet der, nichts findet der, Nichts findet, der sich beeilt.
Er nimmt sich Zeit, die Zeit zu verschwenden,
Er liebt die lahmen Enten und jeden Schnellzug, der steht.
Er nimmt sich Zeit von der Brücke zu spucken und lang noch hinterher zu gucken,
wohin die Reise wohl geht?
Er nimmt sich Zeit für die Wunder im Garten,
Zeit, um genüsslich zu warten auf die verspätete Bahn ...
Gerhard Schöne
Ich wünsche Ihnen, dass Ihnen dieser Engel in den nächsten Wochen hier und da begegnet.
Ihr Pfarrer Rüdiger Popp, Aug.-Sept. 2023
Beten heißt: Hände begegnen
„Jesus Christus spricht: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet.“ Mt. 5,44-45
„Geht`s noch? Den soll ich lieben?“ Klar, seinen Feind zu lieben, das hört sich irgendwie richtig an. Sogar die Psychologie lehrt, wie auf ähnliche Weise Spiralen der Gewalt und Ablehnung durchbrochen werden können. Und doch regt sich sofort Widerstand, wenn ein konkreter Mensch vor dem geistigen Auge erscheint: Der Nachbar, der einfach nicht leise sein kann. Die Kollegin, die über alle anderen hinter dem Rücken lästert. Der Chef, der Tag für Tag auf seinen Angestellten herumtrampelt. Gerade diesen Menschen sollen wir in Liebe begegnen. Doch ist das leichter gesagt als getan, wenn sie wieder direkt vor uns stehen. Was Jesus hier in der Bergpredigt fordert, ragt für mich wie ein unbezwingbarer Berg vor uns in die Höhe.
Beten für diejenigen, die mir das Leben schwer machen? Auch das ist alles andere als leicht. Die Gebete der Bibel, die sogenannten Psalmen, sind voll von Klagen über Menschen, die den Betern das Leben schwer machen. Da gibt es keine guten Wünsche für die Feinde, sondern nur die Bitte, dass Gott ihnen schnell ein Ende bereiten soll. So ein Gebet hat Jesus bei seiner Forderung vermutlich nicht im Blick. Trotzdem könnte das ein erster Schritt in die richtige Richtung sein: zu Gott beten. Den ganzen Frust und die ganze Wut bei ihm abladen anstatt bei unserem Gegenüber. Das kann befreien. Das kann helfen, im Gegenüber nicht mehr den Feind, sondern den Mitmenschen zu sehen. Und so kann Beten helfen, dass zwei Hände zueinander finden. Erst die Eigenen. Doch dann auch die zweier verfeindeter Menschen. Dieser Berg könnte also bezwingbarer werden, wenn die Forderung so lautet: „Betet! Betet für die, die euch verfolgen, und liebt eure Feinde, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet.“
Ihr Vikar Niko Faulhabe, Juli 2023
Vom Tau des Glücks
Gott gebe dir vom Tau des Himmels und vom Fett der Erde und Korn und Wein die Fülle.
(Genesis 27,28 (L))
„Bist Du glücklich?“ Wann hat Ihnen jemand das letzte Mal diese Frage gestellt? Ich meine nicht die eher beiläufige, häufig floskelhafte Frage „wie geht’s?“, sondern die unvoreingenommene, ganz offene, ehrliche und interessierte Frage nach Ihrem persönlichen Wohlergehen. Würden Sie von sich sagen, dass Sie glücklich sind? Finden Sie diese Frage eher leicht oder schwer zu beantworten? Falls Sie zögern – an welcher Stelle spüren Sie den inneren Widerstand? Was gehört für Sie unbedingt dazu, um sagen zu können: „Ja, ich bin glücklich!?“
Ich vermute, die Frage nach dem Glück war im alten Israel auch keine alltägliche. Die Bibel schildert, wie in besonderen Lebenssituationen Menschen einander den Segen Gottes zugesprochen haben. Da war man nicht geizig mit Wünschen, sondern hat quasi alle Register gezogen. Das zeigt der aktuelle Monatsspruch, ein Ausschnitt aus dem Gespräch zwischen Jakob und seinem Vater Isaak. Isaak segnet seinen Sohn (den er an dieser Stelle noch für den erstgeborenen Esau hält) mit dem Besten, was man sich zu damaliger Zeit nur vorstellen konnte: mit dem „Tau“ des Himmels – obwohl Regen selten verlässlich fiel, dem „Fett“ der Erde – auch wenn der Acker meist nur mühsam seinen Ertrag lieferte, mit „Korn und Wein“ die Fülle – obwohl der Hunger ein ständiger Begleiter war. Gewünscht wird kein Durchschnitt, kein „Mehr-oder-weniger-gut-durch- kommen“, sondern die ganze Lebensfülle. Was würden Sie sagen, wenn man Ihnen so viel Gutes wünschen würde?
Ihr Pfarrer Popp, Juni 2023
Angedacht Mai 2023:
„Du hast einen schönen Beruf“, sagte das Kind zum alten Brückenbauer, „es muss sehr schwer sein, Brücken zu bauen.“
„Wenn man es gelernt hat, ist es leicht“, sagte der alte Brückenbauer, „es ist leicht, Brücken aus Beton und Stahl zu bauen. Die anderen Brücken sind viel schwieriger“, sagte er, „die baue ich in meinen Träumen.“ „Welche anderen Brücken?“, fragte das Kind. Der alte Brückenbauer sah das Kind nachdenklich an. Er wusste nicht, ob das Kind es verstehen würde. Dann sagte er: „ Ich möchte eine Brücke bauen - von der Gegenwart in die Zukunft. Ich möchte eine Brücke bauen von einem Menschen zum anderen, von der Dunkelheit in das Licht, von der Traurigkeit zur Freude.
Ich möchte eine Brücke bauen von der Zeit in die Ewigkeit, über alles Vergängliche hinweg.“ Das Kind hatte aufmerksam zugehört. Es hatte nicht alles verstanden, spürte aber, dass der alte Brückenbauer nachdenklich war. Weil es ihn wieder froh machen wollte, sagte das Kind: „Ich schenke Dir meine Brücke.“
Und das Kind malte für den Brückenbauer einen bunten Regenbogen.
von Anne Steinwart aus Pastoralblätter Bausteine 4/2016
Herr, gib mir Mut zum Brückenbauen, gib mir den Mut zum ersten Schritt.
Lass mich auf Deine Brücken trauen und wenn ich gehe, geh du mit.
(Evangelisches Gesangbuch 646)
Werden Sie Brückenbauer:
Ob in der Nachbarschaft oder in der Arbeit oder in der Fußgängerzone.
Welche Kenntnisse braucht es dafür?
Ein Lächeln, ein offenes Ohr, etwas Zeit.
Trost im Dunkeln
Christus ist gestorben und lebendig geworden, um Herr zu sein über Tote und Lebende. Röm. 14,9
Es ist ein diesiger Morgen und es ist kalt. Kalt und windig. Von verschiedenen Wegen kommen dunkel gekleidete Menschen zusammen. Manche unterhalten sich leise, hier und da sieht man ein Schmunzeln im Gesicht, das Taschentuch fest in der Hand, andere haben den Kopf geneigt und sind in Gedanken versunken.
Ein Mensch ist gestorben, jemand der einem nahestand, der einem viel bedeutet hat und nun ist er nicht mehr da.
Tot. Aus, vorbei, nie wieder. Diese Worte hallen in den Köpfen der Besucher nach, seitdem sie die Nachricht bekommen haben.
In der Trauerfeier wird viel über das Leben des Verstorbenen erzählt. Es tut gut, sich zu erinnern. Es tut gut, auch wenn der Schmerz über den endgültigen Abschied aufsteigt, Tränen kommen und der Kloß im Hals sich nur mühsam herunterschlucken lässt.
Die Lieder, und biblischen Texte sprechen vom Tod, und von seiner Endgültigkeit und gleichzeitig klingt in ihnen Hoffnung an. Hoffnung und glaubende Zuversicht, dass wir, dass der Verstorbene, gehalten ist in Gottes gütiger Hand. Dass wir, wenn wir sterben, eine himmlische Heimat bei Gott haben, dort wo weder Not noch Angst, Leid oder Geschrei herrscht, sondern greifbare erfahrbare Nähe Gottes rundherum.
Und am Grab, als der Sarg schon in die Erde gelassen worden ist, stimmt einer der Anwesenden den Osterruf an: „Christ ist erstanden.“ Dies wird erst etwas zögernd, dann mit immer mehr Zuversicht und Stimme von allen anderen aufgenommen. Dieser österliche Jubel richtet uns alle auf und lässt uns in den, in diesem Augenblick sonnigen, Himmel blicken.
Tod und Auferstehung. Gott als Herr über Tote und Lebende, authentischer aber auch berührender kann dieser Glaube, den wir jedes Jahr wieder neu an Ostern feiern, kaum aufgenommen und mit unserem Leben verknüpft werden.
Ich bin dankbar für diese Zeichen von Glauben. Sie geben mir Mut und Kraft. Sie helfen mir, in meinem Leben Gott als meinen Herrn zu erleben und auch im Tod zu wissen, Gott ist da.
In diesem Sinne Ihnen allen gesegnete Ostern,
Ihre Pfarrerin Almut Heineken, April 2023
Das Hungertuch der Aktion Misereor fragt nach dem, was uns heilig ist.
Leuchtende Farben, bunte Schnipsel – und doch ist das Hungertuch der Aktion Misereor des Künstlers Emeka Udemba in einer krisenhaften Zeit entstanden: Klimaveränderung, Krieg und Pandemie fordern uns gleichzeitig heraus. Das Bild erzählt von der Schönheit unseres blauen Heimatplaneten, aber auch von seiner Zerstörung
und fragt:
Was tasten wir nicht an?
Was ist uns das Leben wert?
Was ist uns heilig?
So ist das Hungertuch der Aktion Miserior Aufforderung zur Einmischung und Einladung, die Hoffnung auf ein neues, gerechtes Gesicht der Erde nicht aufzugeben. Wir haben es in der Hand.
März 2023
Fröhliches Lachen ist angesagt
Ihre Geschichte steht in den ersten Kapiteln der Bibel. Sara und ihr Mann Abraham lebten vor rund 3000 Jahren. Was ich über ihr Leben lese, zeigt mir: Sie hatten allen Grund, enttäuscht zu sein.
Anfangs hat alles noch so gut ausgesehen. Gott selbst hat den beiden den Auftrag gegeben, ihre Heimat zu verlassen und in ein neues Land aufzubrechen. Und die beiden – bisher kinderlos – sollten Kinder bekommen, viele Nachkommen. Sara und ihr Mann Abraham haben daraufhin alles hinter sich gelassen und sind in dieses neue, unbekannte Land aufgebrochen. Nur: Dann passiert lange Zeit scheinbar gar nichts. Kein neues Land in Sicht. Und vor allem auch kein Kind. Die Jahre vergehen, und die beiden werden darüber alt. So leben sie ohne Großfamilie, ohne eigene Kinder in einem fremden Land.
Eines Tages sitzt Abraham in der Mittagshitze im Schatten seines Beduinenzeltes. Da kommen drei Männer vorbei.
Er lädt die drei zum Essen ein, und sie setzen sich unter einen schattigen Baum. Sara bereitet unterdessen im Zelt das Essen vor. Auf einmal sagt einer der Boten: „Nächstes Jahr um diese Zeit komme ich wieder zu dir, dann wird deine Frau einen Sohn haben.“ Sara hat im Zelt alles mitgehört. Ein eigenes Kind? Dieses Versprechen hatte sie schon einmal bekommen – vor vielen Jahren, aber bis heute ist nichts passiert. Sie und ihr Mann sind viel zu alt für eigene Kinder. Es ist zu spät. Sara kann nicht anders, sie lacht. Wahrscheinlich kein fröhliches, lautes Lachen, eher so ein stilles, enttäuschtes Frustlachen.
Einer der drei Gäste hört dieses Lachen. Er fragt Abraham: „Warum lacht Sara?“ Sara erschrickt und leugnet: „Ich habe doch gar nicht gelacht!“ Aber der Bote ist sich sicher: „Doch, du hast gelacht“.
Ein Jahr später bekommt sie tatsächlich ein Kind, einen Sohn. Sie nennen ihn Isaak. Das bedeutet: Gott hat mich zum Lachen gebracht.
Das Lachen verwandelt sich.
Für mich ist das eine Geschichte, wie Lachen sich verwandeln kann. Sara lacht erst verbittert, weil ihre Situation aussichtslos aussieht. Sie glaubt überhaupt nicht daran, dass sich da noch was zum Guten wendet. Aber offenbar muss man selbst gar nicht immer an das gute Ende glauben. Es kommt trotzdem. Es braucht seine Zeit. Sara muss ein Jahr lang darauf warten. Aber dann kann sie lachen. Nicht mehr bitter, sondern aus vollem Herzen.
nach Jochen Lenz, Feb. 2023
Gesehen werden
Eigentlich ein ganz netter Spruch die Jahreslosung.
So dachte ich. Dann schlug ich die Bibel auf und landete in einem spannenden Familiendrama, das eigentlich eine Netflixserie wert wäre.
Denn Hagar, die diesen Satz spricht, ist eine ägyptische Magd, die in die Spannungen ihrer Arbeitgeberfamilie hineingerät. Sie soll ein Kind gebären vom Oberhaupt der Familie Abraham, da die Ehefrau Sara keines bekommen kann. Das war zur damaligen Zeit nicht ungewöhnlich. Sie willigt ein, doch dann, als sie
schwanger ist, achtet sie ihre Herrin nicht mehr.
Dies spürt Sara und will ihr deutlich machen, wer hier die Chefin ist. Hagar bekommt Angst und flieht in die Wüste. Zum Glück entdeckt sie eine Quelle und lässt sich dort nieder. Frustriert und ohne eine Idee was nun kommen soll.
Da wird sie von einem Engel angesprochen. Er beauftragt sie, zurückzukehren und sich unterzuordnen. Das begeistert sie natürlich nicht, doch Gott spricht ihr noch etwas zu: Dein Kind ist der Beginn einer großen Dynastie. Sein Name soll Ismael lauten, übersetzt: „Gott hat erhört.“ Hagars Antwort an den Engel, in dem sie Gott selbst erkennt, ist ein Glaubensbekenntnis.
„Du bist El-Roï, der Gott des Mich-Sehens.“
Der Satz beginnt im Hebräischen mit „Du“ und endet mit „mich“. Du, Gott, und ich, Hagar: In dem kurzen, aber intensiven Gespräch an der Wasserquelle ist für Hagar eine Gottesbeziehung entstanden, in der sie sich getragen und ermutigt fühlt. Doch inwieweit hat Gott ihr eigentlich geholfen, wenn sie doch nach der Begegnung mit Gott in die schwierige Dreiecksbeziehung mit Abraham und Sara zurückkehren soll? Zunächst mal konkret hilft ihr die Aufforderung: „Gib dich nicht dem Tod preis, du hast eine Zukunft!‘“ Hagar fühlt sich gewürdigt, weil Gott sie sieht. Nicht nur kurz oder einmal. Es ist eher ein ununterbrochenes Sehen.
Dabei geht es nicht um eine prüfende Beobachtung im Sinne von Big Brother, sondern um ein Gesehen-Werden im seelsorglichen Sinn. Sehen heißt hier: „Ich nehme wahr, dass es dich gibt mit allem, was dich ausmacht. Du bist eben kein Nichts, keine Luft.“ Hagar erfährt, dass sie als Frau in einer ganz bedrohten Existenz gesehen wird.
Der Zuspruch von Gott stärkt Hagar für ihren weiteren Lebensweg, sie geht jetzt aufgerichtet und mit Würde ihren Weg und weiß, dass Gott sie begleitet.
Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Jahr 2023.
Ihr Pfarrer Rüdiger Popp